Rosa Brille
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Horst Willenberg
Essen und Bielefeld
* 1954
Künstlerisch tätig seit 1968
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SNS: Die Rosa Brille

(Schnittstelle: 18. Mai 1991)

Die Betrachtung des Weltgeschehens, insbesondere der jüngsten Ereignisse, kann weder aus gebührlicher Distanz noch im Gefühl der sachlichen Auseinandersetzung vorgenommen werden. Überhaupt lässt sich Weltgeschichte seit langem weder detailliert noch wahrheitsgemäß darstellen. Wenn eine Betrachtung dargelegt wird, braucht sie einen Anfang wie ein Ende. Die jüngste Weltgeschichte findet ihr natürliches Ende in der Gegenwart, und in den simulierten Zukunftsszenarien des wirtschaftlich-militärischen Machtkomplexes. Als Beginn kann eine frei gewählte wie auch eine strategisch bedeutsame, trendsetzende Marke gewählt werden. Wir befinden uns im Jahr 2 der großen Illusion. Die Sowjetunion geht in die Knie, droht zu einem ungleich gigantischeren Jugoslawien zu entbrennen als vorstellbar. Albanische Sicherheitskräfte morden gen Italien strebende Flüchtlinge gleich am Strand, Saddam hat nichts mehr gegen die nördliche Pufferzone, denn dort operieren inzwischen türkische Armeekräfte beidseitig der türkisch-irakischen Grenze gegen die Kurden. Die Iraner sind zu besorgt um ihr Image, als dass sie noch allzu penetrant fragten, was mit den zigtausend Schiiten im Sumpfgebiet zwischen Euphrat und Tigris im Irak geschehen ist. Ganz nebenbei werden eben die Stiere, deren Qual gestoppt werden sollte, auf eben jene Tierschützer gehetzt, die den Matadoren mit einer Art Sitzstreik die Show verleiden und Öffentlichkeit schaffen wollten. Derweil fordert der Bundeskanzler Herr Kohl eine Grundgesetzänderung, verwässert und verschleppt die britische Regierung den letzten Bankskandal auf Geheiß der Amerikaner, weil ja auch der CIA dort Konten führte. Italien wirft albanische Flüchtlinge raus bevor sie drin sind, russische Patrioten schließen baltische Grenzstationen auf mörderische Weise. Kambodscha erstickt im Elend, der Libanon erfreut sich eines syrischen Friedens und derselbe lybische Diktator, der mit Angriffen auf Amerikaner von jenen wie ein Kaninchen gejagt wurde, bietet sich eben jenem Amerika als Vermittlung zu den Palästinensern für die kommende Nahostkonferenz an ohne sofort ausgelacht/ausgebuht zu werden. Diejenigen, die dem kurdischen Irrsinn der Entführung entgingen, werden von den türkischen Behörden nicht aus dem Hotelarrest entlassen. Im Libanon feiert das Geiselroulette eine Wiedergeburt. Die UNO erteilt Amerika so ganz nebenbei die Erlaubnis, in der Waffenbestandsfrage des Iraks ohne Rückfrage erneut angreifen zu können, die Türkei verfolgt beidseitig im Grenzgebiet de facto genau jene Kurden, die der Natopartner Amerika, und einige andere, zu schützen vorgeben.

Wo ist hier die Systematik? Wenn nicht schon in meinem Geschreibsel, so doch im Weltgeschehen? Sollte in all dem kein System, nur der nackte Wahnsinn stecken? Leider nicht. Ich nehme also die rosa Brille ab und beschreibe, was ich sehe:

Nichts wird die Deutschen noch auf lange Sicht so sehr auf kurzfristige Ja/Nein-Entscheidungen in der internationalen Politik festlegen wie die Folgen der Wiedervereinigung. Die Sowjetunion betrachtet mit Entsetzen die jugoslawischen Ereignisse und arbeitet lieber schon jetzt gegen jedes zu deutliche Anzeichen eines solchen Zerfalls. Die Amerikaner verzichten tatsächlich vorerst darauf, Saddam zu erledigen, denn ein stabiler Diktator ist immer noch besser als denn unvorhersehbare Mehrheitsverhältnisse. Der Iran killt einen der letzten demokratischen Idealträger im Pariser Exil und hält ihr weltliches Ansehen mit Verhandlungsergebnissen im Libanon-Geiselroulett aufrecht. Die Türken nutzen die europäische Ohnmacht im Fall Jugoslawien um ihr Kurdenproblem auf ein ihnen genehmes Maß zu reduzieren. Albanien schießt auf Landflüchtlinge, kein Wunder, ein Risikofaktor wie der bulgarische Reaktor fehlt, es kommt kein Geld ins Land. Wer keine Atombombe, Chemiewaffen, Biolabors oder wenigsten einen kleinen Reaktor hat, der kann auch nicht jene amerikanische Erfolgsgesellschaft zur Mitarbeit reizen, die uns schon mit dem Schauspiel: "Der Golfkrieg" auf kommende Brot-und-Spiele-Zeiten einstimmte. Die Amerikaner danken es den Türken, was die Kurden zuerst nur von Saddam annahmen. Die Italiener zeigen Härte, damit die albanischen Sicherheitseinrichtungen weniger Bedenken haben. Die Kuwaits finden zur alten Moral zurück, diesmal des Mitleids ob der öligen Wolken sicher. Fa. Kohl & Co. drängt nun sehr auf eine Grundgesetzänderung. Der Zeitpunkt ist günstig, die Angst kriecht ins Hirn wie in den Arsch. Ob Albanien/Italien, Türkei/Irak/Kurden oder Jugoslawien/Sowjetunion, die Ereignisse, die wir unlängst fasziniert am Fernseher verfolgten, sie kommen zu uns, in kleinen Schritten, kleinen Dosen.

Nein, wir glauben nicht, dass all den Flüchtlingen verstärkt von uns geholfen werden sollte. Wir glauben fest, dass Not aus Hunger nicht Elend genug sei, unterscheiden zwischen Wirtschafts- und Asylflüchtigen. Dieses Vorgehen rechtfertigt sich aus demselben Widerspruch, mit denen wir diese Verhältnisse, wenn auch nicht alleine, mithin zugelassen haben. Machen wir die Grenzen dicht, bevor die Unruhen an unsere Türe pochen. Aber was ist richtig? Lassen wir die Flüchtenden herein, dann werden sie mit uns überlegen, wie der schleichende Nationalfeudalismus gestoppt werden kann. Knallen wir ihnen die Türe vor der Nase zu, werden sie von der zu erwartenden Sturmflut wie ein Rammbock vor die Pforten unseres Starrsinns geworfen.

Aber das alles, ob Bericht oder Mutmaßung, hat ja keinen Zusammenhang. Setzen wir die rosa Brille wieder auf, sie bewahrt uns vor dem eigenen Schmutz, vor strafrechtlicher Verfolgung, und sie hilft uns, unsere Reise zum Regenbogen fortzusetzen, als sei nichts geschehen; außer die Erinnerung, da war einer, der nahm die Brille ab, aber die Wahrheit war das nicht, genau so wenig wie die anderen Wahrheiten, kann man sich dran halten oder auch nicht. Der Vorteil der rosa Brille, sie reduziert all die Wahrheiten auf die EINE, mit der wir leben können. Doch hat sie tatsächlich EINEN Nachteil, die rosa Brille: einmal abgenommen, passt sie nie mehr so gut wie zuvor, und das immer wieder, mein Ohr juckt inzwischen schon jedes Mal, wenn ich sie nur ansehe.

Bielefeld, den 18. Mai 1991