Das hohe Tribunal
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Horst Willenberg
Essen und Bielefeld
* 1954
Künstlerisch tätig seit 1968
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Das Hohe Tribunal

Wer kennt sie nicht, die offenen oder versteckten Rotten Gleichgesinnter, die sich zum Wohle und der Pflege einer Liebhaberei, des Berufes oder hehrer Menschenpflicht in verschiedenen Gruppen einbringen - um einander zu erbauen, Andersdenkenden die Chance zur Veränderung anzubieten oder den eigenen Horizont zu erweitern. Jedoch - closed areas, mailing-lists, Geschlossene Benutzergruppen, vielfältige Moderation, Parteilichkeit (einschließlich der zum Menschsein), bloße Willfährigkeit, Realnamengerangel und anon-server, listed-only-persons und pure Gastsysteme - all diese unterschiedlichen Vorgehensweisen sind verschiedene Aspekte eines Instruments. Flamewar, Angiftungen, Krieg der Vorwürfe, Stellvertreterkrieg von unten - all diese Begriffe sind zu harmlos, um die mit aller Härte verteidigten, längst etablierten Hohen Tribunale zu begreifen. Die mit spielerischer Leichtigkeit entstehenden und vergehenden, in ihrem Dasein ernst zu nehmenden Hohen Tribunale sinnvoll einzuordnen wird vermieden - trotz ihrer zutiefst a-demokratischen Gefährlichkeit, weil a-sozialen Wirkungskraft. Wo auch immer ich mein Aktionsmuster aussende und das Echo auswerte, das Hohe Tribunal ist so gut wie überall. Es arbeitet wie einst die Inquisition auf der Schwelle zum nächsten Schritt der Aufklärung. Verbissen um alte Positionen und Pfründe kämpfend. Die Tätigkeit, die Entscheidung des Hohen Tribunals, wird dankbar angenommen, arbeitet es doch in Übereinstimmung mit lokalen Göttern und anderen Landesfürsten (auf die es letztlich ja doch hört, das Volk, der große Lümmel). Wie sich dereinst die Inquisition nicht etwa im Vornherein aus von in Rom eingesetzten Tribunen bildete, sondern das Hohe Tribunal als Idee durch die Länder schwadronierte, mit jedem Substanzgewinn mehr und mehr mordend, je geringer der Widerstand wurde, so finden sich im elektrotechnisch basierten virtuellem Netz die Geister zusammen. Die Kläger, die Spanner, die Verfolgten - sie ringen in der altbekannten Falle Täter-Opfer-Beziehung nicht etwa um Abschaffung und sinnvollen Ersatz des Hohen Tribunals, sondern einzig um dessen Vorherrschaft. Die Besten müssen sich nach den höchsten Maßstäben messen lassen. Deshalb der Blick auf die Gesamtheit der internet-connectivity. Von der Instant-Remote-Communication (IRC) über file- und mailing-lists bis hin zu news-and-mails ist alles vorhanden, was in harten Wirklichkeit, meist on/off-zerstückelt, teils interessanter gelöst, teils zur Unkenntlichkeit verarmt, auch besichtigt werden kann. Wo finden wir das Hohe Tribunal? Lässt es sich festmachen im Sinne von "der, der, der und der und die da auch"? Ein wenig schon, wobei es unsinnig wäre, nun Namen zu nennen, denn gerade die mit Namen sind besonders beliebig austauschbar. Geht es mir nur um einen Aufguss des Illuminaten-Projekts oder lässt sich mehr vorweisen? Die, natürlich auch in der RealWorld™ beobachtbaren Vorfälle folgen dem Muster, dass genervte Kommunikationsteilnehmerinnen sich auf mailing-lists, bzw. deren Anwendungsformen zurückziehen, um ungestörter untereinander zu sein. Dass sie damit der Interaktion ausweichen, derenthalben sie überhaupt zusammengefunden haben, ist nahezu geringfügig. Schon der nächste Schritt, die Moderation der mailinglist, deren noch schlechtere Erreichbarkeit bzw. Nachprüfbarkeit denn der News, schaffen geschlossene Zirkel - wo einst das Offene Ohr als Grundgedanke stand. Interessentinnen, die thematisch vor allem an die Metakommunikation solcher Zirkel herantreten wollen, kommen oft nicht über die Eintrittsschwelle hinaus, um später aufgrund der Entscheidung eines Einzelnen, des keepers der mailinglist, hinaus zu fallen. So etabliert sich ein Hohes Tribunal offensichtlich(er). Solche Existenzen in Blasen-Universen sind keinesfalls die einzige Erscheinungsform des Hohen Tribunals. Im Bereich der instant-remote-communication und den offenen, allgemein gehaltenen Diskussionsforen wie *politik* sind die schwadronierenden Hohen Tribunale häufiger auszumachen. Zwar können sie zum Großteil auf eine zentralistische Absegnung verzichten, die es meist auch gar nicht gibt, aber auch der vorsichtige Seitenblick auf regionale Gutsverwalter oder sonstige lokale Gottheiten gibt ihnen nur wenig Anhaltspunkte, ihr Treiben in Frage zu stellen. Sie, die Hohen Tribunale, betreiben Selektion, bereiten und verbreiten Urteile wie Verurteilungen - was nicht das Schlimmste wäre, denn das ist nicht neu. Wirklich neu ist die öffentliche Anonymität in der Erziehung zur Massenverurteilung, zur Denunziation und zur Gerüchteaufbereitung, die sich in den Netzen, oft in arbeitsam studierter Umarmung, auf Umgangsformen einübt, die jedem Tyrannen Tränen des Respekts entlocken. Noch lange bevor Computer Rechnen oder Chemie lehren, ist Pädagogik, und sei es eine noch so miese, tagtägliche Bildschirmrealität. Neu auch die monadische Lebensform als Hightech-Entertainment, trotz faktischer Isolation voneinander das ausgelebte Gefühl der Zusammengehörigkeit. Massenzusammenkünfte wie Einzelkontakte erzeugen fragmentarische Vips = virtuelle Persönlichkeiten. Herrscher, Beherrschte, Verräter und Mahnende - niemand und nichts braucht sich nur im Geringsten Auge in Auge zu erleben - Frontbildung purer Ideologien (wir leben von der Idee, die Seele aber hungert, lautlos verschwiegen oder verleugnet). Abstrahierte Konfrontationen, der gekündigte Institutsangehörige nicht als Erweiterung, aber als Fortführung der Philosophie des Bombardements der Spielzeugwelt, vom Flugzeug aus betrachtet. Das Paradigma wird bestimmt von Gentechnik im Baukästen, deren Abfälle im Ausfluss verschwinden, ferngesteuerten, mit Fernsehkameras bestückten Raketen - wer will da schon wegen vorgeblichen, kaum oder gar unfasslichen Hohen Tribunalen eine Szene machen?

Die Heftigkeit, mit der Mensch, als Abweichler, Sonderling oder Ketzer in einem Forum oder einer Geschlossen Gesellschaft mit Ablehnung konfrontiert wird, ist oft nur mit Fanatismus oder gut entlohnt erträglich. Ob usenet oder xy-Partei, wo wir hinschauen, erhebt die moralische Inquisition, das Hohe Tribunal, das Haupt, immer im Einklang mit der Sensationslust, dem Kalten Schauer, wen es denn nun treffen wird. Hehre Worte einsetzend, notfalls die eigenen Domestiken züchtigend, falls deren Auftritte das Selbstbild allzu sehr ins Wanken bringen. Die in dieses Szenario eintauchenden Menschen wirken von aller Pädagogik verlassen und nie auf ein solches Schlachtfeld vorbereitet. Oder sind vom sogenannten Alltag abgebrüht und/oder nicht zuletzt präpariert von den Ideologien ihrer persönlichen Welt. Was also können sie schon groß entscheiden, wenn nicht auch in diesem ach so freiheitlichen Umfeld wie gehabt entweder die Fäuste in der Tasche oder aber die Nase in den Wind zu halten?

Das Hohe Tribunal wird befinden, dass mein Beitrag zwar einen Generalangriff auf den Cyberspace, auf die globale Kommunikationsfreiheit darstellt. Das Hohe Tribunal wird offen lassen, ob es ignorant hofft, dass die einzelne Stimme verhallt - oder diesem Ketzer mit aller gebotenen Härte begegnen, da es nicht um Hohe Tribunale, sondern einzig gesunden Menschenverstand, Grundformen des Umgangs, Grenzen der Interaktion und überhaupt ganz natürliche Mehrheiten geht, die selbst mich verdauen werden (wer sie nur selbst verdauen könnt). Anstatt uns selbst zu fragen, warum wir uns an das Hohe Tribunal gewöhnt haben, laden wir die ganze Welt ein - weder wirklich auf einen verantwortlichen Umgang vorbereitet, noch in der Lage, die Ansätze der Verantwortlichkeit jedem geladenen Gast bereitzustellen. Vielleicht ist es notwendig durch diese Tortur zu gehen, dann aber nicht die Denunziation, die Hetze, die ideologischen Parteinahmen. Nicht den Krieg verharmlosend, sondern offenen Auges und Augen öffnend, anstatt Anleitungen zur kommunikativen Ausrottung verstohlen-kichernd oder lauthals-gackernd an Gesinnungskreise verteilend.

(12.7.98 / 1.11.07)