Zensurfreiheit
CreativeCommons
Horst Willenberg
Essen und Bielefeld
* 1954
Künstlerisch tätig seit 1968
Zur Postkartengalerie
--->   Fractal AURA

Der Vollständigkeit halber

wird mitgeteilt, dass nicht alle

Informationen vollständig sein können.

Zensurfreiheit! Von wem? Für was?

Zwar glaube ich zu verstehen, worauf jene hinauswollen, deren Demokratieverständnis nach ein wenig oder mehr noch sinnvoller Zensur verlangt, kann dem aber nicht zustimmen, dies als eine für die Demokratie (oder das Netzwesen) unerlässlichen Akt zu betrachten. Es geht darum, ob Meinung X einer Person Y gefällt oder nicht. Worauf meines Erachtens hingearbeitet wird, ist das Dilemma, dass an jedem Kiosk stattfinden kann: Geht es um meine Sympathien und Antipathien oder um ein Informationsangebot? In Bezug auf unser Medium: Muss ich einen Account in einer Nazibox haben, um zu erfahren, was dort gespielt wird oder ist es nicht besser, wenn in einem freien Spiel der Gegebenheiten Pro und Kontra auf frei zugänglichen Plattform stattfinden? Sehe ich mir die klassischen Medien an ist doch klar, dass DIE ZEIT wohl kaum einen antisemitischen Hetzartikel unkommentiert druckte und dass BILD wohl kaum meinen Kommentar zu ihrer deutschnationalen Plakatwerbekampagne abdrucken würde. Und genau da, in diesem Defizit, Pro und Kontra auf eine Plattform zu bringen, in jeder Hinsicht das selbsterzeugte "im Trüben fischen" zu unterbinden, liegt der zukunftsweisende Moment eines interaktiven Mediums  wobei ich inzwischen die bloße Schriftorientierung regelrecht begrüße, weil das geschriebene Wort die engste Schleuse für jede Demagogie darstellt. "Hier", in diesem Medium, kann ich berichten wie auch kommentieren, ohne zu fragen, ob ich nun darf. Mit allen Konsequenzen. Wer bestimmte Strukturen anbietet, sollte diesen Strukturen gerecht werden. Eine Zeitung, die unbequeme Leserbriefe unterdrückt und nur jene durchlässt, die sich selbst lächerlich machen oder jene, die harmlos genug erscheinen, läuft natürlich in Gefahr, im eigenen Sinne reformfähige Querdenker zu unterdrücken, aber eine solche Zeitung steht irgendwie im Einklang mit der von ihr vertretenen Struktur, da wir alle wissen, dass es nicht von der Urheberschaft sondern von der Redaktion abhängt, ob ein Leserbrief gedruckt wird. Das NETZWESEN ist keine Unter- oder Teilmenge der gewohnten Herangehensweise. Interaktive Strukturen anbieten und sie dann auf Meinungsausgrenzung zu reduzieren, empfinde ich als völligen Widerspruch. Wieso sollte ich mir die Arbeit machen, INTERAktivität zu installieren, wenn ich meine Ausstattung, wenn wir die Infrastruktur, auf die klassischen Einbahnstraßen reduzieren wollen? Natürlich gibt es Meinungen, die zu transportieren, mir erhebliche Bauchschmerzen bereitet. Und sicherlich beeindruckt mich das Argument "die demokratischen Spielregeln dürfen nicht so zur Geltung kommen, dass ihr Ausreizen eben jene Demokratiebasis aushöhlt".  Was sind das für Spielregeln, dass ihre Anwendung sie selbst aushebeln können? Im Prinzip war mir schon vor Jahren bei der Initiierung von /TNETZ/NETZWESEN klar, dass dieser Punkt, Meinungsfreiheit von Gewaltaufrufen unterscheiden zu können, ja zu wollen, zum zentralen Politikum im sozialen Alltag der Netze werden musste. Nach wie vor betrachte ich die Zensurfreiheit auf zwei Ebenen. Die Freiheit von Zensur und die Freiheit, Zensur auszuüben.

Was spricht für die Freiheit VON Zensur? Zensur macht abhängig, es sind immer größere, härtere Dosen nötig, um Zensur wirksam zu halten.  Die Handlung, beispielsweise einen ausländerfeindlichen Text einzuspielen, gelangt nur dort zur Tatkraft, wo es unwidersprochen und/oder mit überwiegender Unterstützung stattfindet. Verachtung mit Ächtung zu strafen ist eine symptomatische Kur, die an der Tatsache der Verachtung nichts ändert. Mir von menschenfeindlichen Kräften auch nur eine Spur eben dieser Menschenfeindlichkeit aufzwingen zu lassen, spricht gegen jede Notwendigkeit. Und aus dieser Notwendigkeit heraus will ich selber der Akteur bleiben, als denn zur Marionette des Gegensatzes zu werden; ich versuche auch jenen zuzuhören, die dem Gemeinsinn entgegenwirken wollen. Wenn die Demokratie keine Staatsform ist, die ihre eigenen Regeln überlebt, muss sie sich wandeln. Jene, die aus der Handlung heraus tatkräftig werden, es schaffen, einzuschüchtern oder gar, durch fehlenden Widerstand auf der Handlungsebene sich befähigt fühlen, den verbalen Angriff in Tätlichkeiten umzusetzen, sie sind es, die den Bruch mit den Spielregeln wollen. Sie setzen an der Meinungsfreiheit an, suggerieren nahezu, Zensur sei das wirksamste Mittel gegen ihre Agitation, doch sobald Zensur einsetzt, weisen sie genüsslich auf den Stachel der Selbstentfremdung hin, diesen Makel, den keiner wahrhaben will, weil ja Freiheit einen hohen Preis verlangt, und seien es Teile dieser Freiheit. Ein obskures Mirakulum? Zweifellos nicht, denn wer mit dem Willen zur Zensur Meinungen beurteilt, hat die Zensur, was das Selbst betrifft, schon längst in Gang gebracht.

Und, jene, die im Polylog der Datennetze nicht nur auf der Handlungsebene notwendigen Widerstand leisten sondern schon tätige Unterdrückung unter Heranziehen von Ausnahmeregeln schaffen wollen, sie sind damit ebenfalls schon aus den von ihnen selbst gepriesenen Spielregeln ausgebrochen, untergraben notfalls die eigene Meinungsfreiheit, wohl auch, weil ihre Reaktion daran mitwirkt, dass die Grenzen zwischen Wort und Tat nicht mehr wahrgenommen werden. Und genau das wollen an sich jene, die sich der Notwendigkeit verschließen: Zum Tätigwerden zwingen. Da ihnen nicht entgegengekommen wird, schieben sie die anderen in den gewünschten Gegensatz, der dann keiner mehr ist. Und genau diesen Eindruck habe ich. Dass wir in Gefahr laufen, als Ganzes durch die Flucht VOR einer Berührung IN eben genau jener Ecke zu landen, wo wir hin sollen. Die raffinierteren unter den Agitatoren bevorzugen die Vorgehensweise, erst selbst so aufzutreten, dass ihnen Zensurwillen entgegenschlägt, dann Rückzieher auf naive oder notfalls lächerliche Positionen durchzuführen, um aus der zumeist folgenden Duldung ihrer Person abzuleiten, sie seien nun etabliert genug, ihrerseits Zensurwillen auszuüben. Zensurbefürwortende müssen sich fragen lassen, woher sie die Gewissheit nehmen, ob die auch nur geringste Verachtung politischer Gegnerschaft, die eigene Freiheit erhält, darstellt oder bedingt? Welcher Notwendigkeit entspräche es, meinem politischen Gegner bei der Schaffung von Grauzonen auch noch entgegenzukommen? Der Einsatz von Zensur zur Wahrung der Freiheit glorifiziert im Übrigen das gegenwärtige Modell von Freiheit. So, als sei das Diskutieren über Zensur schon der Höhepunkt aller gemeinschaftlich erreichbaren Freiheit und nicht ihr, krass gesagt, kümmerlicher Anfang. Und diese mickrige Pflanze, die ein stattlicher Baum werden könnte, erstickt unter der geringsten Zensur. Auch dies ist notwendig, denn eine Freiheit, die keine ist, soll auch keine sein. Zensur presst die Meinung in den Kopf, da ist wenig Platz, wie wir alle wissen, deshalb landet die Meinung in der Hand und wird, unreflektiert, zur Tat. Auch dies ist notwendig, denn eine Freiheit, die keine ist, soll auch keine sein. Ist es nicht absurd, in einem interaktiven Medium, in einer polydirektionalen Struktur, feudalistische Zonen zu festigen? Ist die moderne Antwort der demokratisch gesinnten Gemeinschaft auf die Attacken der technisch aktualisierten Herrschaftsdemagogen ein Zerfall in Lehenssysteme? Wer zensiert, oder zum Unrecht schweigt, fordert die Gewalt heraus. Zensur ist die unbequemere Lösung, denn wer sagt, was rechtens sei, wird angreifbarer als jene, die sich schweigend im Recht wähnen. Bestimmte Teilbereiche des Metanetzes NICHT zu transportieren, es ANDEREN zu überlassen  weil die INHALTE nicht gefallen, mag im Rahmen eines lokalen Konzeptes nachvollziehbar sein. Aber dies sollte dann hieb- und stichfest sein. Ich vermag nicht zu erkennen, inwiefern eine Selektion von Themenbereichen, bzw. die Filterung bestimmter Positionen eines Themenbereiches IM NETZ keine Zensur darstellt. Ob ich nun persönliche Meinungen oder eine von vielen Meinungsplattformen einschränke, beides läuft der Informationsfreiheit zuwider und ist vor allem ein Einschnitt in den Grundgedanken der Meinungsbildung: Meinung entsteht beim Empfänger. Der Absender wird niemals eine hundertprozentige Voraussage treffen können, welche Meinung erzeugt wird. In einem sowieso schon manipulierten Umfeld fällt Manipulation weniger auf. Anstatt Manipulation der Meinungsbildung eine "strukturelle Kritik". Wenn Server A xyz/politik einspielt, muss Server B überprüfen können, ob auch AUS dem NETZ in die BOX A xyz/politik KOMPLETT ankommt. Es fliegt raus, wird strukturell gekippt, wo dauerhaft eine Manipulation der INHALTE stattfindet. Struktur über Inhalte manipulieren, das ist es, wodurch die Zensur den Zensierten zuarbeitet. Sind wir an einem prinzipiell autonomen Netzwesen interessiert, in dem Gleiche unter Gleichen jedwedes Versäumnis überprüfen können? Oder wollen wir die basisdemokratische Macht dieses Mediums verstümmeln und eine lehensorientierte Autokratie festigen, in der die einzelnen Menschen nichts, das System aber, das jeder Notwendigkeit zuwiderläuft, alles bedeutet? Ich betrachte es nicht als verachtend, die Faust aufzuhalten, die mich schlagen will. Aber es ist eine Portion Verachtung den Menschen gegenüber nötig, um den Menschen ächten, dessen Faust mich schlagen _könnte_. Kein Forum für Faschisten, sondern ein Forum zur Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Dieser Unterschied soll in Rechnung stellen, dass es gerade im Bereich der Stammtischtäterschaft eine Unzahl von Kräften gibt, die sich, mit nur geringem Anstoß von außen, in ihrer Isolation zu Keimzellen extremistischer Machart hochschaukeln. Eben diese Isolation zu unterlaufen hat viele Gründe, unter anderem:  Die zum Sinneswandel notwendige Konfrontation mit Andersdenkenden zu ermöglichen. Mich selbst nicht durch eine Politik des Gegensatzes in eben jene Verachtung zwingen zu lassen, die den Konflikt vertieft anstatt ihn lösen zu wollen.

Daraus resultiert für das Netzwesen beispielsweise: Neutralität, Ignoranz und Selektion als bewusste oder ungewollte Unterstützung menschenfeindlichen Handelns abzulehnen. Widerstand nicht daran zu messen, wessen Meinungen ausgeschlossen werden, sondern Widerstand gegen jede inhaltliche Manipulation als notwendige Tat zu bewerten. Kritik dahingehend zu untersuchen, ob sie dem möglichen Potential einer Struktur entspricht und Skepsis jener unkritischen Haltung entgegenzubringen, die, aus welchen Motiven auch immer, Struktur den Inhalten opfert. Es ist notwendig, mit Vernunft und ohne Machtspielchen zu arbeiten. Weniger kriminaltechnisch als denn wirtschaftspolitisch zu argumentieren, ende ich mit der Aufforderung, weniger Inhaltliche Manipulation als denn Strukturelle Kritik als eine notwendige Grundlage zu betrachten. Es bedarf der ständigen Unterscheidung von Meinungsäußerung und Gewaltaufruf, damit aus der Verhinderung  einer kriminellen Tat nicht eine Gleichgültigkeit allen Andersdenkenden gegenüber wird.

Wir werden mit den Anforderungen wachsen.

12.2.1995 / 14.1.2013