Die Ferne Gegenwart
Wir können nicht in Echtzeit wahrnehmen. Zwischen eintreffendem Reiz und bewusster Verarbeitung vergehen in der Regel etwa 50 bis 300 Millisekunden, abhängig von Sinnesmodalität, Aufmerksamkeit und individuellen Faktoren. Unser Bewusstsein vernetzt jeden Impuls sofort mit parallel einströmenden und bereits gespeicherten Eindrücken; eine isolierte Reiz-Perspektive existiert nicht. Vielmehr löst jeder Sinneseindruck in verschiedenen Hirnarealen überlagernde, sich verstärkende oder auflösende Kaskaden aus – ein Netzwerk aus vorgefertigten Mustern, gespeicherten Abläufen und unvorhersehbaren Emotionen.
Wir können keinen Gesamteindruck in allen Details oder Zeitabschnitten simultan beobachten, denn wir selbst sind all diese Prozesse zugleich. Dieses in Form und Dauer amorphe Selbst kennt zwar die Verzögerung zwischen Reiz und Emotion, kann sie aber nie vollständig durchschreiten oder reflektieren.
Diese unbemerkte, gerade erst stattgefundene Zeitspanne nenne ich „Die Ferne Gegenwart“. Sie ist kein Zukunftsentwurf und keine bereits erlebte Gegenwart, sondern all das Dazwischen, in dem eine Erfahrung zwar geschehen, aber noch nicht vollständig in unser Bewusstsein eingetreten ist. Sie bildet den narrativen Rahmen für jene Geschichten, die im Übergang zwischen möglich und bereits wahr geworden liegen.
Bielefeld, Mitte der 90-er Jahre / 23.05.2025
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